Gemeinschaft

Austritte: Ausbrüche, Abschiede Abgänge

von Regina

Austritte: Ausbrüche, Abschiede, Abgänge

Ausbrüche: Anfälle, Aufruhre, Aufwallungen

Abschiede: Auszüge, Weggänge

Abgänge: Verluste

Der Synonymdienst meines Computers bietet mir diese Liste alternativer Wörter an. Auffallend viele A’s und ja, all das gab es auch schon im Mongrenier.

 

Offensichtlich sind Austritte nicht unbedingt so richtig freiwillig und fern aller Freude. Was macht es uns so schwer wegzugehen, enttäuscht zu sein, Abschied zu nehmen? Wo und wann lernten wir, EIN sei besser als AUS? Einkommen hat mit Lohn und Gewinn zu tun, Auskommen indes mit reichen, ausreichen, was heissen will knapp genügen.

 

Austritte verursachen Schmerzen – auf beiden Seiten. Die Frage wer dabei wieviel Schulden trägt vergrössert diese oft noch zusätzlich. Hilfreicher scheint mir zu klären: WAS trägt daran Schuld und was müssen wir uns bewusst machen?

 

Die Motive, die uns bewegen in einem Kollektiv zu leben, können Aufschluss geben. Wie bewusst sie auch sein mögen, transportieren sie Hoffnungen und Erwartungen, welche nach Erfüllung drängen. Flucht aus Einsamkeit, aus unglücklichen Beziehungen, Hunger nach zwischenmenschlicher Nähe, nach Hilfe, nach Liebe. Gerade Gemeinschaften, die einen Wandlungsimpuls in die Welt bringen wollen und formulieren werden damit in die Pflicht genommen. Wann sind diejenigen, die da sind, die Richtigen und die Richtigen wozu?

 

An Auszügen klebt der Geschmack von verpasster Chance: «da wäre mehr drin gewesen, in mir, in dir, in uns, wenn ich, wenn du, wenn wir uns nur mehr angestrengt hätten!» Was, wenn wir’s zu Ende denken, uns zur Frage führt: Wann und unter welchen Umständen können jemals alle Menschen miteinander leben und auskommen? Dann, wenn alle zu 100 Prozent frei sind, befreit sind von allen Wunden, inneren und äusseren Missverständnissen und wir uns total verwirklicht haben werden. Dabei lassen wir ausser Acht, dass gerade unser unverwirklichtes Potential menschlich macht und uns damit ein Ziel gegeben ist, uns nämlich zu verwirklichen.

Bis wir so weit sind bieten wir uns gegenseitig an, im glücklicheren Fall in einem erträglichen Mass, das Trainingsgelände zu sein für unsere Entfaltungen. Übersteigen die Anforderungen unsere Kräfte oder sind wir geländegängig geworden im vorliegenden Ort, kommt es unweigerlich zu einer Trennung, zum Abschied und damit zeitgleich zu einem Eintritt auf Neues mit neuen Chancen. 𝛂 et 𝛀 Ich plädiere deshalb dafür die Synonymliste zu ergänzen mit: Neuanfang, Neugier, Aufbruch, Aufwind, Aufatmen, Freude und glänzende Augen auf die Zukunft gerichtet.

 

Die Trauma-Therapeutin Ilan Stephani sagt, Wildtiere seien uns voraus in Sachen Grenzen sichern. In uns liege instinktiv der Impuls zur Liebe, zum Kontakt, zur Gemeinschaftsbildung. Was uns hingegen nicht so ohne weiteres gelingt sei der Umgang mit unseren Grenzen und dem Nein-Sagen. Darum sollten wir uns wirklich kümmern. Wie auch das Spiel mit den Wörtern am Textanfang zeigt, hat unsere Kultur es verpasst neutral und natürlich damit umzugehen. Stephani’s Meinung nach trieb uns dieses Unvermögen in die Isolation (Klein- und Kleinstfamilien in einem Haushalt) als einzige Option für Schutz und Überlebensstrategie. Was sie als flächendeckendes hochpathologisches Trauma-Symptom benennt.

Dieses Trauma bricht auf wenn wir in eine friedliche Gemeinschaft eintreten und wir übersehen dabei leicht, dass wir noch keine intakten Grenzen gesetzt haben und diese auch angemessen anzeigen können. Frei von Angst und von moralisierenden Tönen zu sagen was ich bin, fühle, kann, wünsche, vermeide, kritisiere, will erlernt werden. AUF IN EINE GEMEINSCHAFT :-)

 

Es werden Versuche mit Regeln gemacht. Alle Verhaltensregeln, die ich von anderen Gemeinschaften gelesen habe, beginnen mit ein und demselben Wort: Ich … Das weist darauf hin, dass sie nicht gemacht sind um mir Sicherheit zu verschaffen gegenüber den anderen, sondern, um mir Hilfen zu leisten für mein eigenes Verhalten, ich also stets in grosser Selbstverantwortung bin.

Ebenso geben Regeln implizit immer ein Wissen vor. Doch was wissen wir schon mit Sicherheit? Was weiss ich über mich heute, was morgen vielleicht nicht mehr mich ist? Was hindert uns, soviel wie möglich offen zu lassen, damit wir auch wirklich genug Platz finden für unsere wahre Grösse? Wir können einfach nicht im Fluss schwimmen, solange wir uns am Ufer festhalten.

 

Ja, das liebe Vertrauen! Wie und wo entsteht es? Da wo ich keine Schmerzen einfange oder da wo ich erlebe, dass ich Schmerzen überleben kann? Und genau diese Erfahrung mich ermutigt und befreit – weil die geforderte Sicherheit aus mir selber kommt, die ich so dringend brauche um meinen Weg zu gehen zu meiner wahren Natur. Und ich dafür die Anderen nicht verantwortlich machen muss, sondern ihnen danken kann für ihre Bereitschaft, mir verbindliche Sparringspartner sein zu wollen?

Folgerichtig würden unsere Kontakte in etwa so beginnen: «Ich kann dir TrainingspartnerIn sein in …» oder «Ich suche ein Gelände mit …» Erwartungen würden offensichtlicher, Anforderungen klarer, Missverständnisse und (Ent-)Täuschungen möglicherweise weniger. Wir wüssten wozu wir die Richtigen zu sein hätten. In unseren Fällen, hier im Mongrenier, hätte ich unter anderem antworten müssen: «Nein, um dich von Geldsorgen zu befreien bin ich nicht die Richtige» oder «Nein, weder will ich Französin werden noch Schülerin von fremden Experten.»

 

Das haben mich die drei Austritte aus unserer Gruppe bis jetzt gelehrt. Danke. Ich bleibe mit viel Energie und Erkenntniswille daran, das grossartige Thema «Individuum – Kollektiv und ihre Interaktionen» zu erforschen. Das Leben im Kollektiv «miteinander leben in neuer Form» erlaubt mir, mir näher zu kommen und ich danke meinen KommunardInnen von ganzem Herzen für ihre Verbindlichkeit und ihren Mut mitzuschwimmen im grossen Strom.

 

Anmerkung: Ilan Stephani, siehe OYA Nr.54



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Commentaires: 3
  • #3

    sandro (samedi, 17 août 2019 14:32)

    Ich möchte nun doch noch auf die wichtigen themen eingehen, die regina hier anspricht und die auch mich ansprechen: abschiede. ich spitze das wort zu: trennungen. wie gehe ich damit um? ich habe im herbst vor zwei jahren eine freundschaft beendet, mit einer offenen mitteilung, dass ich den kontakt so nicht mehr weiterführen möchte. ich war da ganz treu zu mir und wurde ganz untreu jemand anderem gegenüber. das verrückte ist: seit dieser trennung ist mir dieser freund fast täglich präsent. nicht dass ich diesen schritt rückgängig machen möchte, aber ich habe da wie eine erfahrung gemacht, dass so etwas wie trennung gar nicht möglich ist. der andere mensch ist immer da. in der folgezeit haben zwei menschen ihre freundschaft zu mir beendet. ich konnte das mit meiner erfahrung hinnahmen, traurig, mich selbst, aber nicht sie hinterfragend und vor allem: nicht gekränkt. - meine fragen an mich scheinen sich nun zusammen mit gedanken über reginas worte zu klären. das thema ist: verbindlichkeit, ein begriff, der meinem lehrmeister karl aschwanden zentral war, bei dem ich die humanistische psychologie ruth cohns, themenzentrierte aktion, lernte. Wie verbindlich will ich sein? wie verbindlich der/die andere? ich habe vielleicht eine viel unverbindlichere erwartung in gestaltung einer beziehung und mein gegenüber erwartet eine grosse verbindlichkeit. an unverbindlicher Gestaltung einer beziehung ist nichts von vornherein schlechtes - ich habe freundschaften, in denen wir nie etwas abmachen und wenn wir uns sehen, ist es, als hätten wir uns nie getrennt. das ist wunderschön. aber die abstimmung der erwartungen, das ist der springende punkt! mir kommen zum schluss noch berichte in den sinn, wie sich sogenannte "wilde" (indianer, beduinen, aborigines) verabschieden: sie blicken sich noch einmal an, kehren sich dann den rücken, gehen weg und schauen kein einziges mal zurück. so als ob es für immer wäre, jetzt grad für immer, und gleichzeitig nur so auch schon ganz offen für ein mögliches nächstes mal. nichts nach tragend, im sinne des wortes. danke, dass ich darüber nach-denken konnte.
    sandro, bern

  • #2

    Marcella (mardi, 13 août 2019 19:42)

    Hallo Regina, schon wieder... ;)
    danke für die newsletter, die ich mit grosser freude gelesen habe!
    deinen artikel habe spannend und sehr interessant gefunden. Da klingt in mir so manche seite von eigenen erfahrungen un erlebtem an...
    ich würde mich sehr freuen, mit meinem kleinen "gagelzelt" an euer kulturfest mitte september zu kommen!!
    für die erlebnistage im november gibts bei mir kein innerliches zögern. die einzige schwachstelle ist eben, wie ich dir schon gesagt habe, dass ich gerade mit dem bed&breakfes-job anfange, wo ich schon im oktober für 6 wochen voll und ganz die besitzer vertreten muss, also mit allem allein bin. und ich weiss einfach noch nicht, ob die beiden am ersten november-wochenede bereits zurück sind, werde das aber so schnell wie möglich klären! bis da heisst es einfach daumen drücken und hoffen! oder auch, innerlich die weichen stellen , damit es möglich wird... ;)
    ich wünsche dir und der gemeinschaft von herzen ein gutes einleben mit den "neuen" sowie viel liebes und schönes für die zukunft!!
    Marcella

  • #1

    Sandro (lundi, 29 juillet 2019 14:51)

    Zum Zitat von Ilan Stephani: Kleinfamilie als flächendeckendes hochpathologisches Trauma-Symptom:
    Zuerst danke ich dir, Regina, für deine Betrachtung, die mehrmals zu lesen sich für mich lohnen wird. Aber als Teil einer Kleinfamilie erschreckt mich die Aussage von Ilan Stephani, auch wenn mir bewusst sind, dass Zuspitzungen in Aussagen oft nötig sind. Auch in der Kleinfamilie sehe ich genau die gleichen Herausforderungen, nur eben in viel kleinerem Masstab, von Ja-Sagen und Nein-Sagen, von Offenheit und von Grenzen. Und so danke ich meiner Frau und meiner Tochter, ihrem Partner, dass sie mit mir unterwegs sind - wie ich euch danke für eure Beziehungsarbeit im grösseren Kollektiv. Mit herzlichem Gruss und guten Wünschen, Sandro aus Bern